Michael St. Pierre • Joachim Schlieber • Bastian Grande

In der Luftfahrt ist die Anwendung von Checklisten für den Routinebetrieb und für die Bewältigung von kritischen Situationen integraler Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses aller dort Arbeitenden. Von einem kulturell derartig fest verankerten Einsatz von Checklisten ist die Medizin hingegen in vielen Bereichen noch weit entfernt. Die Gründe hierfür liegen sowohl in soziokulturellen Unterschieden zwischen der Luftfahrt und der Medizin als auch in grundlegenden Unterschieden zwischen den Systemeigenschaften eines technischen Gerätes und eines biologischen Wesens, welche die einfache Adaptation von „Erfolgsrezepten“ aus einer Arbeitswelt in eine andere problematisch erscheinen lässt.1

PD Dr. med. Michael St. Pierre, Anästhesiologische Klinik, Erlangen

Dr. med. Joachim Schlieber, Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Salzburg

PD Dr. med. Bastian Grande, Institut für Anästhesiologie, Zürich

Während es bei technischen Geräten möglich ist, den einen Prozessweg festzulegen, mit dem ein Problem am besten behoben werden kann, ist das Verhalten biologischer Systeme nicht vollständig vorhersehbar, sodass sich die Problemlösung nicht mittels einer linearen „Notfallcheckliste“ erfassen und der Notfall daran abarbeiten lässt. Aber auch wenn „Notfallchecklisten“ in der Medizin einem Behandlungsteam die einzelnen Handlungsschritte für jeden denkbaren Patienten nicht starr vorschreiben können, so ist sich die wissenschaftliche Literatur dennoch darin einig, dass Ärzte und Pflegekräfte in Notfallsituationen von einer Unterstützung des Gedächtnisses und der Entscheidungsprozesse profitieren können: Menschliches Denken kommt rasch an seine Grenzen, wenn es sich unter Stress an selten verwendete Informationen erinnern, eine Mehrzahl an Differentialdiagnosen erstellen oder Berechnungen im Kopf durchführen soll.2

Voraussetzung medizinische Notfall-Kompetenz

Die wesentliche Funktion einer Gedächtnis- und Entscheidungshilfe (engl.: cognitive aid) für Notfälle in der Anästhesiologie besteht darin, erfahrene und trainierte Teams zu unterstützen, sich an wesentliche Informationen zu erinnern, nicht jedoch darin, Anfängern zu helfen eine Situation alleine zu bewältigen, die jenseits ihrer Expertise liegt.3 Gedächtnis- und Entscheidungshilfen setzen somit bei den behandelnden Teams die medizinische Kompetenz im Umgang mit dem Notfall voraus.

Damit aber relevante Information den unter Stress stehenden Behandler in der jeweiligen Situation auch unterstützen kann und nicht als verwirrend erlebt wird, muss so eine Gedächtnis- und Entscheidungshilfe nach ergonomischen Kriterien benutzerfreundlich konzipiert sein.

Progressive Webapplikation (PWA)

In der Nichtverfügbarkeit einer nach ergonomischen Kriterien entwickelten Gedächtnis- und Entscheidungshilfe lag bis vor Kurzem noch ein weiterer Grund für die Nichtanwendung von „Notfallchecklisten“. Um diese Lücke in der anästhesiologischen Notfallversorgung schließen zu können, hat eine Arbeitsgruppe des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) in Kooperation mit dem Institut für Medizininformatik der Universität Erlangen-Nürnberg und einer Softwarefirma in einem dreijährigen Projekt die weltweit erste nationale „elektronische Gedächtnis- und Entscheidungshilfe für Notfälle in der Anästhesiologie“ entwickelt: eGENA (Abb. 1). Bei der Entwicklung von eGENA wurde auf die Einhaltung eines benutzerzentrierten Entwicklungsprozesses („User Centered Design-Process“; UCD) nach DIN EN ISO 9241-210 geachtet, bei dem Struktur, Textgestaltung und grafische Darstellung den Kriterien eines benutzerfreundlichen Systems („usability“) entsprechen.4 Bei eGENA handelt es sich um eine progressive web application (PWA), welche sich unabhängig von Betriebssystem und Endgerät als Funktionalität moderner Browser offline einsetzen lässt. In seinen Funktionalitäten ist eGENA weltweit einzigartig (Tabelle 1).5

Bild: M. St. Pierre

Abb. 1: Die elektronische Gedächtnis- und Entscheidungshilfe für Notfälle in der Anästhesiologie (eGENA), realisiert durch eine Arbeitsgruppe des Berufsverbands Deutscher Anästhesis­ten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Die Unterstützung anästhesiologischer Teams in Notfallsituationen kann durch jedes beliebige Endgerät (PC, Tablet, Smartphone) erfolgen.

Um die Usability weiter zu erhöhen und die App möglichst „pass­genau“ für die Bedürfnisse der jeweiligen Klinik zu machen beschränkte sich die Entwicklungsarbeit von eGENA nicht nur auf die Erstellung einer Webapplikation zum Einsatz in Notfallsituationen, sondern bein­haltete auch die Entwicklung eines separaten Editors, mit dessen Hilfe Kliniken definierte Inhalte (z. B. wichtige Telefonnummern, Lagerorte für Medikamente, Standorte für Geräte etc.) an die Gegebenheiten ihres Hauses anpassen können. Jede Klinik kann somit ihre ganz persönliche Version von eGENA erstellen und diese mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern teilen. Um Kliniken darüber hinaus noch bei der Implementierung zu unterstützen wurden eine Vielzahl an Schulungsunterlagen erstellt, welche ebenfalls kostenlos zum Download bereitstehen. Auf diese Weise sollten die Voraussetzungen für eine möglichst einfache, flächendeckende Verbreitung geschaffen werden.

In einem Editorial anlässlich der erstmaligen Bereitstellung von eGENA gaben die Präsidenten von BDA und DGAI ihrer Hoffnung Ausdruck, dass eGENA eine einzigartige Chance für die deutschsprachige Anästhesiologie darstellen könnte, als erste medizinische Fachdisziplin auf breiter Basis klinische Erfahrungen mit der Anwendung einer alltagstauglichen „Notfallcheckliste“ sammeln zu können.6

Implementierung in den DACH-Ländern

Der Horizont der im Editorial angesprochenen deutschsprachigen Anästhesiologie beschränkte sich jedoch nicht auf die Kliniken in Deutschland, sondern hatte von Anfang an auch immer eine Anwendung in Österreich und in der Schweiz im Fokus: eGENA sollte sowohl der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) als auch der Swiss Society for Anaes­thesio­logy and Perioperative Medicine (SSAPM) mit je einer eigenen nationalen Instanz zur Verfügung gestellt werden.

Für eine umfassende Verbreitung von eGENA in der Schweiz war zudem die Entwicklung einer französischen Sprachversion notwendig, da das Gros der Anästhesisten in einer der beiden Sprachregionen (D/F) arbeitet. Zur technischen Realisierung der französischen Sprachversion wurden eine Reihe an Überarbeitungen sowohl an der Funktionalität der App als auch an der Funktionalität des Editors vorgenommen, damit sowohl alle Texte der App-Oberfläche (z. B. Icons, Beschriftungen der Tabs, editierbare Felder für Impressum, etc.) als auch alle Befehle der Programmoberfläche (z. B. Datei öffnen, speichern etc.) künftig in jede beliebige Landessprache übersetzt werden können.

In beliebige Sprache übertragbar

Zuletzt wurde für die frankophone Version das Akronym „ACIDU“ (aide cognitive digitalisée d’urgence en anesthesie et réanimation) gewählt, da „eGENA“ als Akronym nur im deutschen Sprachraum sinnvoll ist. ACIDU klingt gesprochen dem Adjektiv „assidu“ gleich, was „fleissig, eifrig“ bedeutet (Abb. 2).

Die Implementierung in Österreich erfolgte mit uneingeschränkter Zustimmung des Präsidiums der ÖGARI, welches in seiner Geschäftstelle auch die Mitgliederverwaltung für Kliniken, welche die App personalisieren möchten, beheimatet hat. Für die Schweizer Anästhesiologie werden eGENA / ACIDU auf der Webseite der unabhängigen Schweizer Stiftung für Patientensicherheit in der Anästhesie (SPSA) angeboten, welche ebenfalls die Mitgliederverwaltung für Kliniken, welche die App personalisieren möchten, betreut.

Da eGENA seit der letzten Softwareaktualisierung in jede beliebige Sprache übersetzt werden kann, werden BDA und DGAI die App jeder nationalen Fachgesellschaft zur Verfügung stellen, welche an einer Implementierung in ihrem Land interessiert ist. Die Internationalisierung durch die Österreichische und die Schweizerische Fachgesellschaften könnte somit ein erster Schritt gewesen sein, dem weitere folgen werden.

Abb. 2: Die Startseiten der Österreichischen und Schweizerischen Versionen von eGENA einschließlich ACIDU (aide cognitive digitalisée d’urgence en anesthesie et réanimation), der Sprachversion für die französischsprachige Schweiz.

Autoren
PD Dr. med. Michael St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Uniklinikum Erlangen, Krankenhausstraße 12, 91054 Erlangen

Dr. med. Joachim Schlieber, Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Allgemeine Unfallversicherungssanstalt – Unfallkrankenhaus Salzburg,

Dr.-Franz-Rehrl-Platz 5, 5010 Salzburg PD Dr. med. Bastian Grande, Institut für Anästhesiologie, Universitätsspital Zürich, Rämistrasse 100, 8091 Zürich

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1​ Eismann H, Schild S, Neuhaus C et al. Anästh Intensivmed 2020; 61: 239–24
2 St. Pierre M, Hofinger G. Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. Springer Nature 2020, Heidelberg
3 Marshall SD. Anaesthesia 2017; 72: 289–95
4 Schild S, Sedlmayr B, Schumacher AK et al. JMIR Mhealth Uhealth 2019; 7(4) :e13226
5 Neuhaus C, Schild S, Eismann H et al. Anästh Intensivmed 2020; 61: 340–51. DOI: 10.19224/ai2020.340
6 Rossaint R, Geldner G. Anästh Intensivmed 2020; 61: 340–41. DOI: 10.19224/ai2020.340